Es geht ja nicht nur darum, ob ein S in die Nahtstelle im Wort Advent?kranz oder Zug?führer gehört, sondern manchmal auch darum, ob ein E oder ein S in den Schwein?braten gehört, oder darum, ob man der Speise?karte noch ein N gönnen soll. Und dann stellt sich noch die Frage, warum ein Kind?kopf die Bedeutung wechselt, wenn man ER durch S ersetzt. In denselben Themenkreis gehört auch die Frage, warum die Krone und im Kronprinz ihr E verliert, aber in der Kronenzeitung ein N angehängt bekommt. (Die Kronenzeitung ist eine österr. Boulevardzeitung, vergleichbar mit der Bild-Zeitung in Deutschland.) Ebenso Seelsorger - Seelenruhe.
Es ist auch unklar, woher die Fugenlaute überhaupt kommen. Manche sagen, sie wären die Pluralform des ersten Wortes, andere Theorien gehen von einer Genitivbildung aus. Aber wenn man beispielsweise versucht herauszufinden, wo das S in der Religionsfreiheit herkommt, wird man erkennen müssen, dass die Fugenlaute eine separate Kategorie sind, die möglicherweise zwar von anderen grammatikalischen Abwandlungsvarianten von Wortbestandteilen beeinflusst sind, aber als eigenständiges Phänomen zu behandeln sind. (Im Fall der Religionsfreiheit greift nicht einmal die Idee, dass der Fugenlaut die Aussprache vereinfacht, denn in den Konsonantencluster nfr noch einen vierten Konsonanten zu quetschen, macht gar nichts einfacher.)
Man kann anhand des Kontexts erkennen, ob man von einem Kindskopf (einer Person, die sich kindisch benimmt) oder einem Kinderkopf (Körperteil eines Kindes) reden soll. Aber um zu entscheiden, ob man von einem Schweinebraten (D) oder einem Schweinsbraten (Ö) reden soll, braucht man die geographische Information. Ebenso beim Haltverbot (D), Halteverbot (Ö), Schadenersatz (D), Schadensersatz (Ö), dem schon erwähnten Adventskalender (D), Adventkalender (Ö) und vielen weitern Wörtern. In der Schweiz hat die Bahnhofhalle kein S, in D und Ö aber schon, und den Schweizern ist auch ein Schweinsbraten lieber als ein Schweinebraten (auch: Rinderbraten nur in D, aber Rindsbraten in Ö und CH).
Aber auch innerhalb Deutschlands ist nicht immer alles einheitlich. Die Speisekarte ist weit verbreitet, aber in einigen Regionen liegt in den Gaststätten eher eine Speisenkarte auf den Tischen.
Die genannten Beispiele sind lauter häufig verwendete Wörter, die man in Wörterbüchern nachschlagen kann. Bei ihnen haben sich bestimmte Fugenlaute etabliert, aber eben nicht in allen Regionen des deutschen Sprachraums dieselben. Das Machine-Learning-Modell, das Jonathan Scholbach in seinem Kommentar zur Antwort von bakunin erwähnt hat, müsste also nicht nur wie sonst üblich einfach eine Menge Texte analysieren, um daraus den Regelsatz für Fugenlaute abzuleiten, sondern es bräuchte zusätzlich zum Text auch die Information, in welcher geographischen Region dieser Text entstanden ist. Und um dann einen Text auch korrekt erzeugen zu können, müsste dieses Modell dann auch wissen, in welcher Region der Text verwendet werden soll.
Wenn man dann den Fugenlaut für ein neuartiges Kompositum wie die Winter?leere erraten muss, wird es schwierig. Soll man sich an der Winterszeit orientieren, die ein S enthält, oder an der Winterzeit, die ohne S auskommt? Außer der Winterszeit kommen alle Komposita mit Winter ohne S aus (Winterpause, Winterreifen, Wintermantel, Winterlager, Winterluft), daher ist es vermutlich nicht falsch, bei der Winterleere auch darauf zu verzichten, aber eben die Winterszeit belegt, dass das nicht zwingend so sein muss.
Fazit: Es gibt natürlich implizite Regeln, die angewendet werden, um die richtigen Fugenlaute zu finden. Zu diesen Regeln gehören aber unzählige Ausnahmen, und sie sind auch über den deutschen Sprachraum hinweg nicht einheitlich. Es gibt auch Versuche, diese impliziten Regeln explizit zu machen, also niederzuschreiben. Aber die Verwendung von Fugenlauten nach diesen expliziten Regeln zu lernen, ist wie Klavierspielen lernen indem man Lehrbücher über das Klavierspielen liest, ohne jemals ein Klavier anzufassen. Man muss die deutsche Sprache lange und ausgiebig verwenden, um mit den Fugenlauten einigermaßen gut klarzukommen, aber wenn man dann in eine andere deutschsprachige Region übersiedelt, muss man vieles wieder neu lernen.