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Bei der Recherche des Wortes Bumstinazi stieß ich auf den höchst interessanten Eintrag bei Ostarrichi.org:

"Manche mögen folgendes Beispiel zurückweisen, aber es sollten jene gehört werden, die es erzählen. Bis heute ist es weit verbreitet, kleinen Kindern, die tollpatschig etwas fallen lassen, nicht mit 'Hoppala', sondern mit einem zärtlichen 'Bumstinazi' den Schrecken zu lindern. Einmal nachgefragt, erfuhr ich, daß dieses liebliche 'Bumstinazi' aus den dreißiger Jahren in Erinnerung ist, als man auf diese Weise Sprengstoffattentate der illegalen Nationalsozialisten, leicht verschlüsselt, zustimmend kommentierte. Eine Zustimmung, die sich in kindlicher Sprache konserviert und entfremdet erhalten konnte."

Nun suche ich eine möglichst aktuelle und gepflegte Onlinequelle, um mich in die Thematik einzulesen und „verdächtige“ Wörter nachschlagen zu können. Kann mir jemand helfen?

RegDwight
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Samuel Herzog
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2 Answers2

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Neben Klemperers LTI finde ich immer noch lesenwert Aus dem Wörterbuch des Unmenschen von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind. Kriegt man derzeit nur gebraucht, fürchte ich.

Allerdings »endet« das Buch 1967 mit seiner dritten Auflage; wie aktuell das heute noch ist, muß man eben selbst einschätzen.

Zufälligerweise korrekte Daten aus der Wikipedia:

Es finden sich u. a. Kommentare zu folgenden Wörtern (bzw. deren spezifische Ausrichtung, also ihren Missbrauch bzw. Gebrauch im Nationalsozialismus): Anliegen, Ausrichtung, Betreuung, charakterlich, durchführen, echt, einmalig, Einsatz, Frauenarbeit, Gestaltung, herausstellen, intellektuell, Kulturschaffende, Lager, leistungsmäßig, Mädel, Menschenbehandlung, organisieren, Problem, Propaganda, querschießen, Raum, Schulung, Sektor, tragbar, untragbar, Vertreter, wissen um, Zeitgeschehen. In der dritten Auflage 1967 enthielt das Wörterbuch 33 Begriffe: Mädel wurde herausgenommen, Auftrag, Härte, Kontakte, Menschen, Ressentiments u. a. wurden hinzugefügt.


Ich fände in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Einfluß totalitärer politischer Systeme allgemein auf die deutsche Sprache spannend.
Ich habe die ersten 16 Jahre meines Lebens in der DDR verbracht – bis heute schmecken einige Ausdrücke für mich seltsam: Solidarität, Freundschaft, Kapitalismus und selbst Frieden (lauter »Konzepte«).
Die subjektive Seite ist bei den Ausdrücken aus der DDR natürlich noch viel lebendiger; ihr Verschleiß läßt sich vermutlich besser mit modernen Methoden untersuchen. Bestimmt passiert das auch, da würde ich mal in die Germanistik-Ecke der nächsten Unibibliothek gucken.

Für jemanden, der Deutsch lernt, ist das vermutlich ein fürchterliches Minenfeld. Aber ich denke, einem Ausländer nimmt man Fehltritte hier nicht so krumm. Selbst die bundesdeutsche ARGE führt ja heutzutage Maßnahmen durch – und leider trifft sie damit fast wieder den alten Kern.

fuxia
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  • Maßnahmen der Arge sind mit großer Sicherheit Verbeugungen vor Berthold Brecht (http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Ma%C3%9Fnahme) – user unknown Jun 05 '11 at 06:09
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    @user unknown Wer auch immer das Vokabular der ARGE verbrochen hat, muß natürlich ein Brechtliebhaber gewesen sein. :) – fuxia Jun 05 '11 at 06:12
  • man beachte: 1930, also keine Brechtsche Kritik an der Naziherrschaft. – user unknown Jun 05 '11 at 06:15
  • @user unknown Oh, du hast das ernst gemeint? Ich denke eher an der Fraenkelschen Unterschied zwischen Maßnahmen- und Normenstaat. – fuxia Jun 05 '11 at 06:21
  • Die Arge scheint irgendwie ein Chamäleon mit häufigem Namenswechsel zu sein. Ich kannte sie schlicht als Arbeitsamt und hab auch schon mal von einer Bundesanstalt für Arbeit gehört. Die Betroffenen werden sicher den jeweils aktuellen Namen kennen. – bernd_k Jun 05 '11 at 06:57
  • Na, ich habe es nicht ernstgemeint, aber durch das Nachschlagen von "Die Maßnahme" bin ich eben darauf gekommen, dass der Begriff vor den Nazis wohl schon unangenehm im Gebrauch war. Deswegen habe ich die Entstehung um 1930 nochmal nachgeschoben. Allerdings sind ja die meisten der o.g. Begriffe nicht in der Nazizeit geprägt worden - womöglich umgeprägt? – user unknown Jun 05 '11 at 07:08
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    @user unknown Ja, umgeprägt, oder letzte starke Färbung trifft es wohl am besten. Mich interessiert hierbei, wie die Bedeutung weiterwandert – oder ob die Ausdrücke für lange Zeit verbrannt sind. – fuxia Jun 05 '11 at 07:15
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    @toscho Auch wenn die ARGE-"Maßnahme" wahrscheinlich in vollem Ernst ersonnen wurde: Der Staat ist manchmal durchaus zu Selbstironie in der Lage. Heißt doch die offizielle Software für die Steuererklärung ELSTER. :) – Pekka Jun 05 '11 at 08:48
  • Wow supertolle Antwort! Ich hoff ich finde das Buch irgendwo :) Der Einfluss totalitärer Systeme auf Sprachen allgemein ist ja ein Riesenthema, nicht umsonst ist das ein guter Teil jeder Dystopie. Könntest du bitte noch ARGE verlinken/erläutern? Einem Nicht-BRDler sagt das garnichts ^^ – Samuel Herzog Jun 05 '11 at 12:12
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    @SamuelHerzog Die ARGE ist eine Art Arbeitsamt zweiter Klasse. Ich habe einen Link auf die Jobcenter gesetzt, die regionalen Instanzen dieser Behörde. – fuxia Jun 05 '11 at 18:56
  • oha! Wieder etwas neues gelernt. Danke! – Samuel Herzog Jun 05 '11 at 20:41
  • Mangels anderer Antworten, vielen Dank für deine Hilfe, ich bin mir sicher die Information von dir stimmt so :) – Samuel Herzog Jun 12 '11 at 15:11
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Eine "möglichst aktuelle und gepflegte Online"-Quelle habe ich nicht anzubieten, aber eine punktgenaue Analyse nationalsozialistischen Sprachgebrauchs durch einen Zeitgenossen:

"(Die) Dritte Walpurgisnacht" von Karl Kraus

Shegit Brahm
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bakunin
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